© 2014 by Thorsten Behrens, Gifhorn, Germany
Leseprobe für
Kinder
Der Schokoladennikolaus
Peter stand mit glänzenden Augen in der Haustür. Es war eigentlich zu früh, um dort zu stehen, bis zum
normalen Aufstehen dauerte es noch eine gute Stunde, und außerdem war es sehr kalt. Der Nikolaustag
würde der erste richtig kalte Tag des Winters werden, wenn die folgenden Stunden das hielten, was der
Morgen versprach.
Außer Peters Augen gab es noch einiges mehr, was da so vor der Hautür glänzte. Eine noch recht dünne
und vor allem lückenhafte Schneedecke glänzte im Licht der Straßenlampen, und Peters Schuhe, die vor
der Tür standen, glänzten mit seinen Augen um die Wette. Immerhin hatte Peter sie am Vorabend fast eine
Stunde geputzt, da war es kein Wunder, dass sie so herrlich glänzten.
Das hatte offenbar auch dem Nikolaus gefallen, denn er hatte einiges an Gaben in die beiden Schuhe
gestopft. Aus dem einen Schuh ragte das Vorderteil eines blauen Spielzeugautos heraus, ein richtiger
Rennflitzer, stellte Peter fest, und daneben leuchtete eine Orange. Aus dem anderen Schuh blinzelte Peter
ein riesiger Schokoladennikolaus entgegen.
Auf der anderen Seite der Haustür standen zwei weitere Schuhe, aber die glänzten nicht. Jedenfalls nicht
so wie die von Peter. Sie gehörten Andreas, Peters großem Bruder. Na ja, und der glaubte nicht mehr an
den Nikolaus, sagte er jedenfalls, aber Geschenke wollte er dann doch haben. Also stellte er seine Schuhe
raus, aber putzen... Ein 13-jähriger Junge putzte doch seine Schuhe nicht mehr für den Nikolaus. Das war
etwas für kleine Kinder.
Andreas tauchte hinter Peter im Türrahmen auf. Sein Blick wanderte zwischen den beiden Paar Schuhe hin
und her. Peters waren bis oben gefüllt, die von Andreas schienen bis auf eine Rute leer zu sein. Peter
hütete sich, etwas zu sagen, auch wenn er innerlich grinste. Offenbar gab es zumindest am Nikolaustag so
etwas wie Gerechtigkeit.
Andreas schob ihn nicht gerade sanft zur Seite und hob nacheinander seine Schuhe auf und schüttete den
Inhalt in seine Hand. Aus dem einen Schuh purzelten zwei Orangen und einige Nüsse sowie ein paar
Kekse. In dem anderen waren außer der Rute noch ein Paar Socken und ein Päckchen Bleistifte für die
Schule.
Nun fiel es Peter wirklich schwer, ein Grinsen zu unterdrücken.
Manchmal war es halt einfach besser, sich nicht wie ein 7-jähriger Junge zu benehmen, dem Nikolaus,
Weihnachtsmann und Osterhase egal waren. Wenn der Nikolaus ihn immer so belohnen würde, dann
konnte Peter sich ruhig ein Mal im Jahr wie ein kleiner Junge benehmen, beschloss er.
„Und der Streber hat mal wieder die besten Sachen in seinen nach Käse riechenden Schuhen. Dass Mama
sich überhaupt traut, die anzufassen.“
„Das war nicht Mama, das war der Nikolaus“, erklärte Peter seinem großen Bruder, wie er einer kleinen
Schwester erklären würde, dass der Storch die Babys brachte.
„Ach ja? Ich wird dir mal zeigen, was ich mit dem Nikolaus mache.“
Schnell schnappte sich Andreas den Schokoladennikolaus aus Peters Schuh und riss die
Staniolverpackung von der Figur herunter. Dann biss er mit einem einzigen Happen den Kopf ab.
„So, jetzt ist dein Nikolaus ein toter Nikolaus. Ich habe ihn geköpft“, grummelte er mit vollem Mund und
mampfend vor sich hin.
Peter wurde wütend. Sicher war es auch witzig, wie sich sein Bruder aufführte, obwohl er angeblich nicht
an den Nikolaus glaubte; musste man denn jemandem, an den man nicht glaubte, den Kopf abbeißen; aber
der Spaß kostete Peter immerhin einen riesigen Schokoladennikolaus.
Erwartungsvoll sah Andreas ihn an. Aber Peter würde sich eher die Zunge abbeißen, als ihm das an den
Kopf zu werfen, was ihm auf der Zunge lag. Und er würde nicht weinen. 7-jährige Jungen weinen nicht,
wenn ihr älterer Bruder ihren Schokoladennikolaus auffutterte. Das war eines der ungeschriebenen
Gesetze, an die sich kleiner Brüder halten mussten, um einigermaßen unbeschadet durchs Leben zu
kommen.
Andreas kümmerte sich derweil weiter um den Schokoladennikolaus. Der Bauch verschwand gerade in
seinem Mund, dem nächsten Bissen würde wahrscheinlich der Rücken zum Opfer fallen. Peter wettete,
dass sein Bruder nicht mehr als insgesamt fünf Bissen brauchen würde.
„Na, willst du nicht endlich zu Mama laufen und petzen?“, schmatzte Andreas.
Peter schüttelte den Kopf. Und machte große Augen. Nein, das stimmte nicht ganz. Er machte riesige
Augen.
Dann hatte auch Andreas mitbekommen, dass etwas nicht stimmte. Er hörte auf zu kauen und horchte.
Hinter ihm knirschte der Schnee.
Andreas drehte sich um. Und machte noch riesigere Augen als Peter.
Vor ihnen stand der Nikolaus.
„So, wollen doch mal sehen, ob du mir auch den Kopf abbeißen kannst“, dröhnte der Nikolaus.
Andreas wurde ganz blass im Gesicht. Der könnte sich jetzt im Schnee verstecken, und niemand würde ihn
finden, dachte Peter.
Andreas ließ den Schokoladennikolaus fallen.
„Nein“, stotterte er, „das war nur ein Scherz, ich meine, ich kaufe Peter nach der Schule gleich zwei neue
Schokoladennikoläuse von meinem Taschengeld.“
Nikolaus nickte.
„Wenn nicht, komme ich nächstes Jahr wieder, aber nicht, um dir Geschenke zu bringen.“
Jetzt nickte Andreas. Und Peter grinste.
Nikolaus drehte sich um und stampfte durch den Schnee davon.
Andreas kaufte wirklich nach der Schule zwei riesige Schokoladennikoläuse für Peter. Und beide wurden
die besten Freunde.
Und im nächsten Jahr standen zwei Paar glänzende Schuhe, bis oben voll gepackt mit herrlichen Sachen,
am Nikolausmorgen vor der Haustür.